Der Wahlgewinner ist eindeutig. Nach vorläufigen Ergebnissen kann die Europäische Volkspartei ihren Status als größte Fraktion ausbauen: Allein mit bisherigen Mitgliedsparteien erreicht sie einen deutlichen Zuwachs von 13 Sitzen im 720 Abgeordnete starken Europaparlament, auf 189. Das war der letzte Stand, bevor das Europaparlament gegen 2 Uhr die Aktualisierungen einstellte.
Zweiter, Dritter, abgehängt: Die Sozialdemokraten können demnach ihr Ergebnis fast halten und mit 135 Abgeordneten rechnen – und damit, anders als 2019, wiederum ihre Verfolger deklassieren: Die Liberalen recht verschiedener Obödienzen, die sich unter dem Namen Renew Europe versammeln, verlieren ein Fünftel ihrer Sitze und kommen noch auf 83.
Koalition VDL I: Damit steht eine Mehrheit für eine Art informelle Koalition der Mitte, auf die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sich zwar nicht verlassen konnte, aber doch stützte. Die datengestützte Hoffnung der EVP ist, dass sie diesmal mehr Gewicht und Einfluss geltend machen kann.
Mehrheit unter neuen Vorzeichen: Die EVP fühlte sich 2019 verraten, weil die Spitzenkandidaten-Idee Sozialisten und Erneuerern dann doch nicht so heilig war wie ein Wort aus dem Mund von Pedro Sánchez respektive Macron. Die Christdemokraten haben sich daher umgeschaut und eine theoretische Machtoption rechts von ihnen entdeckt und gepflegt.
Zählen wir nach: 407 Stimmen wären das im neuen Parlament, 46 mehr als nötig für eine absolute Mehrheit. Damit könnte sich von der Leyen (wenn, falls, siehe unten) elf Prozent Abweichler leisten.
Das wird nach aller Erfahrung zu riskant sein. Glauben Sie mir, wir sind in Europa, Fraktionsdisziplin kennen die meisten nur aus ferner Erinnerung an die Mitgliedschaft in anderen Parlamenten. Da muss also noch etwas passieren. Die EVP könnte etwa noch neue Mitglieder bekommen, Vorabsprachen bestehen bereits. Die Grünen empfahlen sich gestern dringlich als staats- und VDL-tragend, und wer weiß, welche Konservativen sich gern konstruktiv einbrächten.
Es wird sich da noch etwas bewegen: Fraktionen sind fluide in einem System mit 27 nationalen Wirklichkeiten, und wer neu ist oder aus der Fraktion geflogen wie die AfD oder Viktor Orbáns Fidesz, muss sich erst neu orientieren oder mit dem Paria-Status eines Non-Inscrit abfinden.
Rechts ist nicht gleich rechts: Der erwartete Rechtsruck trat ein, angeführt von Frankreichs Rassemblement National. Die AfD wurde zweite Kraft in Deutschland. Wenn alle rechts von der EVP sich zusammentäten, sie könnten das gesamte Feld anführen – theoretisch, denn nicht nur streben die einen zur Mitte wie Le Pen und die anderen immer weiter zum rechten Rand wie die AfD. Sie haben auch starke ideologische Unterschiede: im Umgang mit Russland, mit China, mit der EU.