Die Welt dreht sich nicht zurück, und Geschichte wiederholt sich nicht. Die Europawahl am 9. Juni wird zwar zu einer Klimawahl, genau wie 2019, zu einer Richtungswahl darüber, ob es mit dem Green Deal, dem ambitionierten Klimaprojekt der EU, weitergeht. Doch die Klimakrise wurde aus den Schlagzeilen verdrängt.
Es ist ja verständlich. „Natürlich ist das Klimathema durch die Krisen der letzten Jahre in den Hintergrund gedrängt worden“, sagt Sascha Müller-Kraenner, CEO der Deutschen Umwelthilfe, SZ Dossier. „Mein Eindruck ist, wenn man genauer nachfragt, gibt es noch immer ein großes Bewusstsein dafür, dass die Klimakrise eines der ganz großen Probleme ist. Und darüber, dass sich die Regierungen kümmern müssen.“
Das Momentum ist verloren gegangen, sowohl der Klimabewegung als auch der Grünen Partei. Es war erst die Pandemie, dann der Ukrainekrieg, die Wirtschaftskrise und das Gefühl der Gängelei durch Gesetzgebung, die den Menschen zu viel abverlangte. Wenn aber die Öffentlichkeit fehlt, die nach einer Lösung ruft, wenn der Gesellschaft „Klimawandelmüdigkeit“ attestiert wird, gibt es Raum für Stimmen, die die Welt gänzlich anders sehen als Klimawissenschaftler und die den Green Deal am liebsten aufweichen würden, die Welt zurückdrehen, gewissermaßen.
Ein Auszug: Carsten Spohr, CEO von Lufthansa, sagte dem Handelsblatt, er wolle die Quoten für die Beimischung von synthetischem Kerosin ändern, BMW-Chef Oliver Zipse sagte im Interview mit der FAZ, das Verbot neuer Verbrenner auf EU-Ebene ab dem Jahr 2035 sei „naiv“. Dadurch mache sich die Industrie „erpressbar“. Statt darauf zu setzen, müssten Kraftstoffe, also Benzin und Diesel, mit „einem anspruchsvolleren CO2-Ziel belegt werden“.
Es gibt aus der Kommission erste Zeichen der Aufweichung, der EVP-Vorsitzende Manfred Weber hat angekündigt, das Thema Verbrenner-Aus direkt nach der Wahl neu zu besprechen. Der Spiegel berichtet über einen Entwurf von EU-Ratspräsident Charles Michel zur neuen Strategischen Agenda des Kontinents, der die Leitplanken von 2024 bis 2029 vorgeben und im Juni beschlossen werden soll. Die Klimakrise tauche nur am Rande auf. Zum Vergleich: 2019 war eines der Hauptziele ein „klimaneutrales, grünes, faires und soziales Europa“, das schrieb Michel selbst. Die Bundesregierung ist mit dem Entwurf nicht einverstanden.
„Es geht dabei auch um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft“, sagt Müller-Kraenner, er erinnert an die USA und China, die viel in Elektromobilität investierten. „Es wäre verhängnisvoll, wenn die Dinge, die jetzt angeschoben worden sind, wie das Verbrenner-Aus, wieder rückgängig gemacht würden. Nicht nur wegen des Klimaschutzes, sondern wegen der Wettbewerbsfähigkeit“, sagt er.
Dass es um Wettbewerbsfähigkeit geht, ist die Sicht der Umweltverbände, der Grünen. Die „Klimawandelmüdigkeit“ bleibt. Sie ist dokumentiert, die Universität Hamburg hat in einer Befragung, die sie jährlich wiederholt, herausgefunden, dass 2023 im Vergleich zu 2021 nur noch halb so viele Menschen fanden, dass der Klimawandel eines der drängendsten Probleme des Landes sei. Müller-Kraenner sieht sie auch.
„Die vielen Vorschriften stoßen nicht auf Widerhall“, sagt er. Das Heizungsgesetz. „Klimaschutz ist nicht das einzige Umweltproblem“, sagt er, „Naturschutz ist ebenfalls ganz wichtig. Es ist wichtig zu sagen, es geht auch darum.“ Derzeit sehe er eine „Übersättigung“ der Gesellschaft mit dem Thema. Es ist ja auch alles wichtig – doch nicht einmal die zuständigen Kabinettsmitglieder Robert Habeck und Steffi Lemke, obwohl beide von den Grünen, können sich auf Prioritäten einigen.
Laut einer Umfrage, die der britische Guardian in Auftrag gab, glauben 80 Prozent der befragten Klimawissenschaftler, dass die Welt mindestens um 2,5 Grad heißer werden wird. Die neuen Wetterextreme der Gegenwart wären dann erst der Anfang.
Hat er denn Hoffnung? „Es hat sich schon viel geändert. Dort, wo ein politischer Wille vorhanden ist, gibt es auch die Unternehmen, die technische Lösungen anbieten. Der Ausbau der Erneuerbaren Energien“, sagt er, „ist eine Riesen-Erfolgsgeschichte der letzten Jahre.“ Eine gute Nachricht: Der NDR hat recherchiert, dass Deutschland schon an diesem Montag, sieben Monate vor Ende des Jahres, das Ausbauziel 2024 für die Solarenergie erreicht hat. Es sind – Chapeau! an die Bürgerinnen und Bürger – auch die vielen kleinen Balkonkraftwerke, die ihren Dienst seit neuestem tun.