Um einmal mit einer gewissen Oberflächlichkeit aufzuräumen, die Wettbewerbsfähigkeit vorwiegend an der Bürokratie misst: „Europa steht in Bezug auf seine Wettbewerbsfähigkeit nicht so schlecht da, wie manche es darstellen wollen“, sagte mir Thierry Breton, der EU-Kommissar für Industrie und Binnenmarkt, am gestrigen Gipfeltag.
Sein Argument: Die Wirtschaftskraft der EU und der USA hätten sich in den vergangenen 20 Jahren im Wesentlichen kaum von einem Parallelkurs entfernt, wenn man Wechselkurseffekte abziehe – „im Gegensatz zu dem, was einige in die öffentliche Debatte geworfen haben“, sagte Breton auf die Frage, ob er Christian Lindners Kritik teile, die letzten seien „verlorene Jahre“ gewesen.
Im Zeitraum seit 2004 ist die EU um 13 neue Mitglieder gewachsen, mit den bekannten Schwierigkeiten bei der Angleichung von Lebens-, Investitions- und Innovationsbedingungen. Nicht zu vergessen, sagte Breton: „Bemerkenswert“ sei es auch und ebenso, dass es der EU gelungen ist, „Wirtschaftswachstum und Treibhausgasemissionen schneller voneinander abzukoppeln als der Rest der Welt".
Soweit die Verteidigung des Standorts und dann auch noch eben der Europäischen Kommission unter Ursula von der Leyen, der Breton angehört: „Wir haben entschlossen gehandelt, um uns auf den Märkten und in den Technologien von morgen zu positionieren: Chips, saubere Technologien, Rohstoffe.“ Natürlich, nichts ist perfekt, weder die Lage noch die Reaktion darauf: Die Energiekosten seien zu senken, die Finanzierung von Scale-ups attraktiver zu machen und mehr privates Kapital zu mobilisieren. „Und natürlich muss der Regulierungsaufwand gestrafft werden“, sagte er.
Von der Leyen hat sich auch auf Drängen der Unionsparteien solche Sprache angeeignet. Breton, der im früheren Leben CEO von Atos war, einem weltweit tätigen IT-Unternehmen, kommt sie natürlich über die Lippen, mit französischem Akzent.
„Die Welt um uns herum hat sich dramatisch verändert und unsere Wettbewerbsfähigkeit ist bedroht“, sagte er, also „unsere Fähigkeit, Arbeitsplätze zu schaffen, zu exportieren, zu innovieren, unseren Wohlstand zu mehren und den grünen und digitalen Wandel zu bewältigen, ohne jemanden zurückzulassen und ohne übermäßige Abhängigkeiten zu schaffen“. So wie es bei russischem Gas der Fall war „und wie wir es jetzt bei chinesischer sauberer Technologie riskieren“.
Thierry Breton kam 2019 als Frankreichs Einwechselspieler in die Kommission, nachdem es mit Emmanuel Macrons ursprünglicher Kandidatin nichts geworden war. Selten hat ein Spitzenpolitiker öffentlich so viel Spaß an der Arbeit – an der Sache, an der Machtpolitik, am Rangeln darum, wer sich im Apparat und bei seiner Spitze durchsetzt. Zuletzt war er einer der sehr wenigen, die von der Leyen Contra gaben. Sollte es mit ihrer zweiten Amtszeit nichts werden, Breton tut absolut nichts dagegen, wieder als ein möglicher Plan B gesehen zu werden.
Was also zu tun wäre, etwa für die nächste EU-Kommission, die im Herbst die Arbeit aufnehmen wird: „Es ist an der Zeit, dass wir mutige und konzertierte Schritte unternehmen, um unsere europäische Politik der Wettbewerbsfähigkeit zu stärken“, sagte er. „Ein radikaler Wandel. Ohne Tabus.“ Das heißt weniger Offenheit – weniger naïvité, würde der Franzose sagen – und weniger globale Vernetzung, dafür mehr Standortpolitik, mit dem heute gern „Souveränität“ genannten Ziel.
„Wir müssen unsere strategischen Interessen mit mehr Nachdruck verteidigen“, sagte er. In der Handelspolitik etwa: „Wir haben nur eine einzige Untersuchung über unlauteren Wettbewerb aus eigener Initiative eingeleitet, die über chinesische Elektroautos. Und das, obwohl unsere Gesetzgebung uns viel mehr Möglichkeiten bietet.“ Wer, wie die deutsche Industrie, dicke Geschäfte in China hat, ist naturgemäß nicht sehr scharf auf mehr Nachdruck aus Brüssel, des Gegendrucks wegen.
Standortfragen: „Wir brauchen eine Strategie zum Schutz unserer traditionellen Industrien in einem Kontext, in dem die Spielregeln im globalen Maßstab unfair geworden sind“, sagte Breton mit einem Blick nach China, aber auch in die USA. „Europa muss ein offener Kontinent bleiben, das ist unsere DNA, aber es muss zu unseren Bedingungen offen sein.“
Versorgungssicherheit spielte noch vor Corona keine nennenswerte Rolle in der Industriepolitik, im Gegensatz zum Preis. Geht es nach Breton, muss sich das entlang der ganzen Wertschöpfungskette ändern. „Unsere Schwerindustrien“ seien „ein wesentliches Glied“ darin und bräuchten Unterstützung. „Fragen der wirtschaftlichen Widerstandsfähigkeit müssen wir in viel größerem Umfang berücksichtigen.“
Da ist die Frage nach dem Geld, die die EU-Staats- und Regierungschefs gestern erwartungsgemäß nicht beantworteten. Die Agenda für wirtschaftliche Sicherheit, die dem Kommissar vorschwebt, „braucht noch einen echten finanziellen Arm“.
Die Kommission hat den Investitionsbedarf für die doppelte Transformation in eine grüne und digitale Wirtschaft bis 2030 mit 650 Milliarden Euro pro Jahr beziffert. „Auch wenn der Großteil dieser Investitionen durch private Gelder finanziert werden sollte, werden in vielen Fällen weiterhin öffentliche Mittel erforderlich sein, um das Risiko von Projekten zu verringern, unsere Widerstandsfähigkeit zu stärken und endgültige Investitionsentscheidungen zu beschleunigen“, sagte Breton.
Er wirbt für ein Paket, einiges eher unkontrovers, manches ohne rechte Chance auf Verwirklichung – heute zählt Breton auf: innovativere Finanzinstrumente, eine größere Rolle für die Europäische Investitionsbank auch in der Finanzierung von Rüstungsprojekten: „Kurzum, ein echter, ständiger Europäischer Souveränitätsfonds mit der Interventionskapazität und der Finanzkraft, um die Wettbewerbsfähigkeit unserer europäischen Industrie zu erhalten.“