Der Bundeskanzler hat neulich den Einsatz deutscher Bodentruppen in der Ukraine ausgeschlossen und damit ohne äußere Not, zum Befremden von Partnern und, so die landläufige Analyse, zum strategischen Vorteil Russlands eine rote Linie gezogen: Die deutsche Unterstützung der Ukraine endet, wenn ein russischer Sieg nicht ohne Truppeneinsatz nicht mehr abzuwenden ist.
Es klang sehr kategorisch. War es das? „Das ist für Olaf Scholz absolut endgültig“, sagte Daniel Brössler, mein SZ-Kollege, Berliner Büronachbar und Autor des gerade erschienenen Buchs „Ein deutscher Kanzler. Olaf Scholz, der Krieg und die Angst“. Es schildert dicht und detailreich, wie es zu Entscheidungen in der Zeitenwende kam – aus der Position der Nähe des Kanzlerreporters und mit der analytischen Distanz unseres Chefscholzologen.
„Relativ früh war Olaf Scholz sich im Klaren darüber: Wir werden nicht Teil dieses Krieges“, sagte Brössler, als wir über seine Erkenntnisse aus der langen und tiefen Recherche für das Buch sprachen. „Die Konsequenz daraus ist: In einem Worst-Case-Szenario werden wir nicht verhindern, dass Russland erfolgreich ist in der Ukraine. Wer das verhindern will, müsste zumindest bereit sein, die andere Seite in der Unsicherheit darüber zu lassen, ob man mit eigenen Truppen reingeht.“
Kyiv, westliche Partner und Moskau haben nun Gewissheit: „Mit diesem Kanzler wird es keine deutschen Bodentruppen in der Ukraine geben“, sagte Brössler. „Scholz sieht darin in letzter Konsequenz die Gefahr eines dritten Weltkriegs. Das Risiko will er nicht eingehen.“
Nun kann man darüber streiten, ob er da recht hat. Selbst wenn, erklärt es nicht, warum er es öffentlich sagt. Warum also? Er tat es „nicht für Putin, sondern für die deutsche Bevölkerung.“ Scholz, der nie gesagt hat, die Ukraine müsse den Krieg „gewinnen“, gibt den Friedenskanzler.
„Hier sind auf unglückselige Weise außenpolitische Gegebenheiten kollidiert mit den aus Scholz’ Perspektive innenpolitischen Notwendigkeiten“, sagte Brössler. Es gehe ihm darum, sein Handeln nutzbar zu machen für die SPD. „Ich glaube, man wäre naiv, wenn man das nicht sehen würde.“ Trifft er Entscheidungen unter dem Eindruck eines nahenden Wahlkampfs, oder will er im Wahlkampf etwas nutzen, das er bereits entschieden hat? „Da will ich ihm Zweiteres zugutehalten – aber das will er auf jeden Fall.“
Scholz, der seine Partei mit der Zeitenwende-Rede geradezu überrumpelte, hält seine Mission diesbezüglich für erfüllt: „Vielleicht liegt das Problem darin, dass er glaubt, seine historische Rolle definiert zu haben. So hat er das selber gesehen: Diese Rede war seine historische Leistung.“
Nun ist es vielleicht an der Zeit, etwas zurückzugeben: „Er steht schon sehr stark unter dem Druck, jetzt etwas für die SPD zu tun“, sagte Brössler. „Er hat durchaus mit Kriegsängsten gespielt, das war alles Teil der Botschaft: Ich bin der Mann, der zwar die Ukraine unterstützt, aber der sich in keine Abenteuer begibt. Dem ist sehr viel untergeordnet.“
Da kommt der französische Präsident ins Spiel: Emmanuel Macron zerschießt Scholz sein Argument damit, dass er sich das Gegenteil nutzbar macht. Macron schließt Bodentruppen nicht aus, um Stärke und Verantwortung zu demonstrieren, und punktet damit gegen linke Fans des Einfrierens und rechte Putin-Freunde.
Da stand Scholz vor einem Dilemma: „Er kann jetzt schweigen, weil es nicht klug ist, Putin zu sagen, was du nicht tust. Aber dann schadet er sich aus seiner Perspektive innenpolitisch. Oder er kann sprechen. Dann spricht er aber eben nicht nur zu den Deutschen, sondern auch zu Putin und schadet dem Anliegen des Westens insgesamt.“ Wie es ausging, ist bekannt.
Wie viel davon ist Scholz, wie viel deutscher Bundeskanzler? Zieht man einmal ab, dass Scholz darunter leidet, niemand ebenso geniales zum Austausch zur Verfügung zu haben, dann bleiben ein Argument und die Persönlichkeit des Kanzlers.
„Er glaubt, dass die Kräfte Deutschlands überschätzt werden, die Möglichkeiten. Er sieht Deutschland eben als Mittelmacht, die durchaus was zu sagen hat und was beizutragen hat, aber die sich nicht überheben sollte“, sagte Brössler. Aber im Kern geht es auch um Neigung: „Da ist er ganz anders als Emmanuel Macron, der in Europa gesehen werden will, auch als Führungspersönlichkeit. Olaf Scholz will den Kopf nicht zu weit rausstrecken.“