Unsere Kernprodukte
Im Fokus
Weitere SZ-Produkte
Shops und Marktplätze
Media & Service
Partnerangebote
Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?
Anzeige inserierenMöchten Sie unsere Texte nachdrucken, vervielfältigen oder öffentlich zugänglich machen?
Nutzungsrechte erwerbenGuten Morgen. „So wahr mir Gott helfe“ – Friedrich Merz hat sich beim Ablegen seines Amtseides für das optionale christliche Bekenntnis entschieden. Hilfe von oben, die konnte der neue Kanzler bei der stundenlangen Zitterpartie gestern im Bundestag durchaus gebrauchen.
Merz‘ Kirche steht aber momentan ohne Oberhaupt da. Zum Glück war da gestern noch Alexander „Astro-Alex“ Gerst, Deutschlands berühmtester Astronaut. Der brachte auf der Ehrentribüne immerhin ein bisschen himmlisches Flair mit in den Plenarsaal, in dem Merz am Morgen so unschön auf dem Boden der politischen Tatsachen gelandet war. Wir berichten aus dem Reichstagsgebäude über einen wahrhaft ungewöhnlichen Tag.
Willkommen am Platz der Republik.
Was wichtig wird
Am Abend fand Friedrich Merz beschwichtigende Worte für das, was sich gestern im politischen Berlin abgespielt hat. „Es ist ein ehrlicher Tag gewesen, aber am Ende des Tages auch ein Vertrauensbeweis der Koalition aus CDU, CSU und SPD“, sagte Merz der ARD in seinem ersten Interview als Kanzler. Er habe „keinen Zweifel“, dass die Koalition „vertrauensvoll zusammenarbeiten“ werde. Dass nicht alle zustimmen, sei normal, sagte Merz.
Hängepartie: Dass er dieses Interview überhaupt geben konnte, war gestern lange unklar. Am Ende waren es 325 Stimmen, die ihn zum Bundeskanzler machten. Immer noch drei weniger als die schwarz-rote Mehrheit von 328 Abgeordneten – aber genug, um ins Schloss Bellevue zu fahren, wo Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bereits mit der Ernennungsurkunde auf ihn wartete.
Was zuvor geschah: Merz war als erster designierter Bundeskanzler jemals in der ersten Wahlrunde gescheitert, wo er nur 310 der notwendigen 316 Stimmen erhalten hatte. Heißt: 18 Abgeordnete aus Union oder SPD haben ihm die Gefolgschaft verweigert. Die weiteren Fraktionen versicherten, nicht für Merz gestimmt zu haben. Wie es dazu kam, dass er am Abend trotzdem zum Kanzler ernannt wurde, berichten wir heute im Tiefgang.
Niemand will es gewesen sein: Durch einen politischen Deal mit Linken und Grünen schafften es die Koalitionäre, noch am selben Tag einen zweiten Wahlgang durchzuführen. Über Abweichler in seinen Reihen wollte SPD-Chef Lars Klingbeil gestern nicht spekulieren, entscheidend sei: „Wir haben einen neuen Bundeskanzler.“ In seiner Fraktion habe es eine große Ernsthaftigkeit gegeben. „Da hat jeder gesehen, um was es geht“, sagte er am Abend im ZDF. Im letztlich erfolgreichen zweiten Wahlgang hätten zudem alle Beteiligten die Größe der Verantwortung erkannt.
Allerdings erst im zweiten Wahlgang: Ohne die Hilfe der Opposition wäre Olaf Scholz nämliche heute noch geschäftsführender Bundeskanzler, Merz hätte seinen zweiten Wahlgang erst am Freitag bekommen. Wie Bundestagspräsidentin Julia Klöckner erläuterte, haben die vier Fraktionen mit ihrer Zweidrittelmehrheit beschlossen, von der Geschäftsordnung abzuweichen. Über diesen Vorschlag, der aus der Bundestagsverwaltung kam, hatten sich führende Köpfe der vier Parteien in verschiedenen Konstellationen stundenlang unterhalten.
Ernste Lage: Steffen Bilger, neuer PGF der Unionsfraktion, mahnte in einer kurzen Aussprache vor der Wahl, die Kanzlerwahl sei die wichtigste Wahl, die dem Bundestag obliegt. „Die Lage ist, wie sie ist, die Lage ist ernst“, betonte er. Es sei angemessen, in den zweiten Wahlgang zu gehen, der Name des Kandidaten sei allen bekannt. Bilger bedankte sich ausdrücklich auch bei der Linken, mit der es in der Union eigentlich ein Kooperationsverbot gibt. Auch die AfD stimmte für die Ausnahme von der Geschäftsordnung, die damit von allen Fraktionen angenommen wurde.
So wahr ihm Gott helfe: Zu Beginn der Wahl, die in der zweiten Runde ohne Namensaufruf stattfand, ging Scholz zu Merz und reichte ihm die Hand. Der scheidende Kanzler gehörte auch zu seinen ersten Gratulanten und war sichtlich erleichtert. Nach dem Scheitern des ersten Wahlgangs war Scholz noch kopfschüttelnd von dannen gezogen und wirkte aufgewühlt. Am Ende reichte es für Merz: Beim Bundespräsidenten erhielt er seine Ernennungsurkunde, wurde damit offiziell Kanzler. Zurück im Bundestag sprach er vor seiner Familie und deutlich ausgedünnten Besuchertribünen den Amtseid.
Komisch muss es sich angefühlt haben für all jene, die gestern eigentlich ihr Ministerium an den Nachfolger oder die Nachfolgerin übergeben wollten. Da war einmal Ex-Kanzler Olaf Scholz, der plötzlich länger geschäftsführend im Amt war als geplant. Erst um 20 Uhr übergab er das Kanzleramt an Merz. Ähnlich ging es Außenministerin Annalena Baerbock, die sich während einer Sitzungsunterbrechung im Plenarsaal mit ihrem designierten Nachfolger Johann Wadephul unterhielt. Am Abend übernahm er die Amtsgeschäfte im AA.
Umzug mit Hürden: Wirtschaftsministerin Katherina Reiche zieht erst heute in ihr Ministerium in der Scharnhorststraße ein. Die Übergabe des Ministeriums durch Robert Habeck ist für heute, 10 Uhr, geplant. Und auch in anderen Amtssitzen geben sich Politiker und Beamte heute, wenn auch verspätet, die Klinken in die Hand. Eher verfrüht waren unterdessen gestern die vielen Abschiedsmails und -posts von Sprechern und Ministern, die schon rausgingen, bevor alles in trockenen Tüchern war.
Ein wenig Selbstkritik: Auch wir haben in unserem gestrigen Dossier getitelt „Das Kabinett Merz legt los“ – diese Ankündigung ist beinahe schiefgegangen. Immerhin: Gestern um 22 Uhr traf sich das neue Kabinett im Kanzleramt zu seiner ersten Sitzung. Doch am hektischen Telefonieren, stundenlangen Konferieren und Debattieren gestern in den Fluren und Hallen des Hohen Hauses war deutlich erkennbar: Mit so einem Tag hat im Deutschen Bundestag wirklich niemand gerechnet.
Wer die Stimmung bei den europäischen Partnern und an den Finanzmärkten gestern kurz nach 10 Uhr beschreiben will, muss nur auf die Börsenkurse schauen. DAX und MDAX hatten zwar schon vorher mit leichten Verlusten begonnen, aber nach der Nachricht vom gescheiterten ersten Wahlgang ging es beim MDAX erst mal um bis zu drei Prozent in den Keller. Beim Dax war es weniger heftig, vermutlich weil die im MDAX versammelten mittelgroßen Firmen noch mehr von der deutschen Wirtschaftspolitik abhängen als die ganz großen im DAX, berichtet Peter Ehrlich.
„Einfach nur bescheuert“ nannte der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Chemischen Industrie, Wolfgang Große Entrup, den „Denkzettel“. Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages, Peter Adrian, sprach von einem „verheerenden Signal“. Die Aktienkurse erholten sich dann nach und nach und mit einem kleinen Sprung nach Bekanntgabe der erfolgreichen Merz-Wahl waren sie wieder da, wo sie vor dem ersten Wahlgang standen. So hat Friedrich Merz schon in den bangen Stunden als Beinahe-Nicht-Kanzler gesehen, wie deutsche Politik international wahrgenommen wird.
Schlag ins Gesicht: Die europäischen Staats- und Regierungschefs ließen ihre Gratulationen am Morgen erst einmal ungepostet. Mujtaba Rahman, gut vernetzter Chef der Eurasia Group, sprach aber sicher europäischen Politikern und Spitzenbeamten aus dem Herzen, als er von einem „Schlag ins Gesicht“ und einem „fürchterlichen Schlag“ sprach. „Phew“, postete er dann auf X, als Merz es geschafft hatte. Um kurz nach 17 Uhr begann dann der große Gratulationsreigen der Europäer. In seinem Glückwunsch an den „lieben Kanzler Friedrich Merz“ sagte Emmanuel Macron: „Es liegt an uns, den deutsch-französischen Motor stärker denn je zu machen“ und die Arbeit für Souveränität, Sicherheit und Wettbewerbsfähigkeit Europas zu beschleunigen.
Merzcron: Frankreichs Präsident wird der erste ausländische Politiker sein, den Merz heute besucht. Seine erste Reise führt ihn nach Paris und Warschau, wo er Macron und Donald Tusk trifft. Am Freitag geht es dann nach Brüssel, wo er mit António Costa, Ursula von der Leyen und Mark Rutte spricht. Im Élysée-Palast hatte man an den Planungen für das heutige Treffen zunächst festgehalten, auch als der Zeitplan in Berlin noch unklar war. Bei französischen Politikern und in den Medien sind die Erwartungen an Merz hoch – das Drama in Berlin war daher vielleicht nützlich, um die Einschätzungen realistischer zu machen.
„Wir sehen uns morgen in Warschau“, postete Polens Regierungschef Donald Tusk auf X. Mit Tusk, der zur gleichen Parteienfamilie gehört wie die CDU, hatte sich Merz schon nach seinem Wahlsieg getroffen – wie auch mit Macron. Der französische Präsident ließ sich gerne schon in vertrauter Pose mit Merz fotografieren. Scholz‘ Abschiede von Macron und Tusk fanden dagegen im nicht öffentlichen Rahmen statt. Bei den Gratulanten durfte natürlich auch EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen nicht fehlen: „Mit Dir zieht ein ausgewiesener Freund und Kenner Europas ins Kanzleramt ein.“
Selenskij wünscht sich Stärke: Die Masse an Glückwünschen, unter anderem von Indiens Ministerpräsident Narendra Modi oder seinen künftigen Kollegen im Europäischen Rat, wird Merz erst sortieren und von seinen diplomatischen Beratern bewerten lassen. Die Erwartungen vor allem eines Mannes sind besonders hoch: Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij äußerte die Hoffnung, Deutschland werde nun stärker werden und in Europa und in den transatlantischen Beziehungen mehr Führung zeigen. Die Führung wurde also bestellt.
Tiefgang
Es ist kurz nach 14 Uhr, da sieht es so aus, als könnte für Friedrich Merz aus einem bescheidenen noch ein erträglicher Tag werden. Auf der Fraktionsebene des Reichstages tritt Lars Klingbeil an die Mikrofone: Linke, Grüne, Union und SPD werden gemeinsam beantragen, „dass es heute zu einem zweiten Wahlgang kommt“, sagt der SPD-Chef. Er sei dafür „sehr dankbar“. Damit ist klar: Um 15.15 Uhr bekommt Friedrich Merz, bekommt die Koalition aus CDU, CSU und SPD noch eine Chance, um die ganz, ganz große Katastrophe abzuwenden.
Dabei hatte der Tag ganz gut begonnen: Merz‘ Frau und die beiden Töchter hatten auf der Besuchertribüne des Reichstages Platz genommen, Altkanzlerin Angela Merkel war gekommen und wurde auf der Tribüne eingerahmt vom geschäftsführenden Finanzminister Jörg Kukies und der früheren Parlamentspräsidentin Rita Süssmuth. Und um 09.01 Uhr eröffnete Julia Klöckner die Sitzung; sie freute sich über „die fröhliche Stimmung im Hause“. Es war angerichtet. Und Merz kurz vor dem Ziel.
Die Geschichte eines politischen Comebacks sollte an diesem Vormittag ihren Höhepunkt finden. Denn eigentlich war Merz ja schon raus. Nachdem er 2002 das Duell mit Angela Merkel um den Fraktionsvorsitz verloren hatte, zog er sich Stück für Stück aus der Politik zurück. 2018 dann der Neuanfang: Merz bewarb sich um Merkels Nachfolge an der Spitze der CDU. Und scheiterte, zweimal gleich. Erst 2021, im dritten Anlauf, wählte ihn seine Partei zu ihrem Vorsitzenden. Jetzt sollte sein Lebenstraum in Erfüllung gehen. Endlich Kanzler.
Kurz nach 9 Uhr ruft Bundestagspräsidentin Klöckner den ersten Tagesordnungspunkt auf, die Wahl des Bundeskanzlers. Klöckner und die beiden Schriftführer rattern die Namen der 630 Abgeordneten herunter, rufen sie zur Wahl auf. Doch bereits kurz bevor die Chefin des Hauses das Ergebnis bekannt gibt, verdunkeln sich die Mienen der führenden Köpfe. Klöckner tauscht sich mit den Parlamentarischen Geschäftsführern der Fraktionen aus, auch mit dem Sitzungsvorstand. Merz steht in einer Runde mit Jens Spahn, Alexander Dobrindt, Andrea Lindholz und Steffen Bilger zusammen – auch sie wirken angespannt.
Noch bevor Klöckner ansetzt, um das Ergebnis zu verlesen, macht eine Nachricht die Runde: „Merz im ersten Wahlgang NICHT gewählt“. Dann die Gewissheit: 310 Abgeordnete stimmen mit Ja, 307 mit Nein, drei enthalten sich, eine Stimme ist ungültig. Damit war klar: Merz ist durchgefallen, seine Regierung ist noch nicht einmal im Amt, da steht das Land schon kurz vor einer Staatskrise.
Es ist nicht der erste schwere Schaden, den diese Kanzlerschaft erleidet: Seitdem Merz und seine Mitstreiter mit den Stimmen der Grünen die Schuldenbremse teilweise aussetzten und ein milliardenschweres Sondervermögen beschlossen, steht der Vorwurf im Raum, Merz habe sein Wort gebrochen. Zweifel kamen auf, wie er mit dieser Hypothek überhaupt noch das Vertrauen in der Bevölkerung zurückgewinnen könne. Und jetzt das. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik fiel ein designierter Kanzler bei der Wahl im Plenum durch.
Dementsprechend weiß auch erst einmal niemand so wirklich, wie es weitergeht. Beratschlagt wird in den Räumen der Union auf der Fraktionsebene. Um 10.29 Uhr kommt dort Lars Klingbeil heraus – wortlos. Wenige Minuten später Merz. Er geht in den Fraktionssaal der Union. Dort gibt es stehenden Applaus für den Gescheiterten. Sehr gefasst, sehr geschlossen, sei die Stimmung gewesen, sagt ein Sprecher hinterher.
Das Problem ist: Auch vonseiten der SPD heißt es, alle Abgeordneten hätten zugestimmt. „Wir sind auch komplett“, sagt ein Sprecher. Aber wer war es dann? Wer hat Merz die Gefolgschaft versagt? Ein Unionsabgeordneter spricht von Unzufriedenheit bei der SPD. Dass die Abweichler aus den eigenen Reihen kommen, weil etwa auch die Junge Union unzufrieden mit dem Verlauf der Koalitionsverhandlungen war, könne er sich nicht vorstellen. Fest steht zu diesem Zeitpunkt nur: Um das Vertrauen untereinander steht es in dieser Koalition nicht zum Besten.
Die Oppositionsparteien wissen das natürlich zu nutzen. Für die Koalition gehe es jetzt darum, zu klären, ob sie eine Arbeitsgrundlage hat, sagt Katharina Dröge, die Fraktionsvorsitzende der Grünen. Sie und Britta Haßelmann werden während einer Pressekonferenz gefragt, ob die Grünen im Fall der Fälle bereitstünden, in eine Koalition mit Union und SPD einzutreten. Das muss man sich einmal vorstellen: CDU und CSU, die im Wahlkampf noch gegen die Grünen lederten – plötzlich angewiesen auf deren Hilfe.
Es kommt aber noch dicker. Bernd Baumann, der Parlamentarische Geschäftsführer der AfD, baut sich auf der Fraktionsebene auf und sagt, seine Fraktion werde auf jeden Einspruch verzichten und wolle, dass sofort ein zweiter Wahlgang stattfindet. „Deutschland braucht Stabilität“, sagt Baumann. Das Bündnis von Union und SPD sei hingegen eine „Koalition der Instabilität“. Damit ist der Tiefpunkt für Merz an diesem Tag erreicht: Die seit wenigen Tagen als gesichert rechtsextreme eingestufte AfD geriert sich als Garant der Stabilität und wirft Merz und seinem Bündnis vor, genau das nicht zu sein.
Und noch immer ist nicht klar, wie es weitergeht. Wann findet der nächste Wahlgang statt? Früh am Vormittag gilt es als ausgeschlossen, dass heute noch etwas geht. Im ersten Anlauf hatte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dem Bundestag vorgeschlagen, Merz zum Kanzler zu wählen. So ist das üblich.
Nun muss ein neuer Vorschlag her, der muss aus dem Parlament kommen – und darüber kann laut Geschäftsordnung erst nach drei Tagen beraten werden, also am Freitag. Die Frist kann verkürzt werden, dafür braucht es aber eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag. Außerdem, so heißt es am Vormittag noch, bleibe eine Minimalfrist. Vor Mittwoch gehe nichts. Das stellt sich zwar später anders heraus, ein zweiter Wahlgang am selben Tag ist offenbar möglich.
Ein Problem aber bleibt: die Zweidrittelmehrheit. Dafür braucht es Grüne und Linke. Darüber beraten nun Vertreterinnen und Vertreter von Union, SPD, Grünen und Linken. Kurz vor 14 Uhr kommt Jens Spahn heraus, dann auch Grüne und Linke. Die Frage: Ist die Union bereit, mit der Linken in dieser Sache zusammenzuarbeiten, schließlich gibt es einen Unvereinbarkeitsbeschluss.
Sie ist es. Nach Klingbeil tritt auch Jens Spahn vor die Medien. Ganz Europa, vielleicht sogar die ganze Welt, schaue auf diesen zweiten Wahlgang, sagte der Fraktionsvorsitzende der Union. Er dankt allen, „die das mit möglich gemacht haben“. Um sein politisches Lebensziel zu erreichen, war Friedrich Merz also auf die Hilfe der Grünen – und der Linken angewiesen. Dieser Makel wird bleiben. Tim Frehler, Gabriel Rinaldi
Fast übersehen
Verfassungsschutz-Chef entlassen: Brandenburgs Innenministerin Katrin Lange (SPD) hat den Leiter des Landesverfassungsschutzes, Jörg Müller, mitten in der neu entbrannten Debatte über den Umgang mit der AfD entlassen. „Das notwendige Vertrauen für eine gemeinsame weitere Zusammenarbeit sei nicht mehr gegeben“, teilte Lange mit. Das berichtet die Deutsche Presse-Agentur. Müller sagte, er habe sich nichts vorzuwerfen. Im Juli soll die Position neu besetzt werden.
Bekanntgabe verschoben: In Brandenburg bewertet der Verfassungsschutz die Landes-AfD bisher als rechtsextremistischen Verdachtsfall. Die Potsdamer Neuesten Nachrichten berichten, unterschiedliche Ansichten über die Einschätzung der AfD sollen zu der Personalentscheidung geführt haben. Der Verfassungsschutz in Brandenburg wollte den Landesverband der AfD bereits nach der Landtagswahl im vergangenen Herbst hochstufen. Darüber berichteten SZ, NDR und WDR im Dezember. Das entsprechende Gutachten war bereits vorbereitet. Die Bekanntgabe wurde aber mit der vorgezogenen Bundestagswahl verschoben. Allerdings wurde die AfD in Brandenburg auch nach der Entscheidung des Bundesamtes noch nicht hochgestuft.
NS-Zeit wird in sozialen Medien zunehmend relativiert: Plattformen werden zunehmend zur Relativierung des Holocaust und des Nationalsozialismus missbraucht. Das ist das Ergebnis des gestern vorgestellten Berichts „Der Holocaust als Meme“ der Bildungsstätte Anne Frank, über das unser Dossier Digitalwende berichtet. Besonders besorgniserregend sei „die Verwischung der Grenzen zwischen vermeintlich unpolitischen Formaten, kreativen Verarbeitungs- bzw. Aneignungsprozessen und ideologischer Aufladung“.
Tiktok, Instagram, Gaming-Plattformen und KI-generierter Content prägten die Erinnerungskultur junger Menschen „mit einer Reichweite und Intensität, die von klassischen Medien und dem Schulunterricht längst nicht mehr eingeholt werden können“, heißt es in dem Bericht.
Die Bildungsstätte Anne Frank fordert unter anderem mehr Digital Streetwork, Bildungsangebote direkt auf den Plattformen sowie Monitoring und Reporting rechtsextremer Inhalte. Das neue Digitalministerium solle federführend eine Strategie für Bund und Länder entwickeln.
Ihnen hilft Gott bestimmt: Heute beginnt in Rom das Konklave. 133 Kardinäle werden von der Außenwelt abgeschottet in der Sixtinischen Kapelle im Vatikan den Nachfolger von Papst Franziskus wählen. Die Kardinäle sollen heute Nachmittag in einer Prozession in die Sixtinische Kapelle einziehen. Für den Abend ist bereits ein erster Wahlgang geplant, berichtet die Evangelische Presseagentur.
Internationale Truppe: Das Konklave wird als das diverseste der Geschichte bezeichnet – 54 der Kardinäle stammen aus Europa, mit 21 ist die Gruppe aus Asien bereits die zweitgrößte, gefolgt von jener aus Afrika mit 17 Vertretern. Ebenfalls 17 Kardinäle kommen aus Südamerika, 16 aus Nordamerika, vier jeweils aus Mittelamerika und Ozeanien.
Pace per favore: Die Kardinäle haben vor Beginn des Konklaves gemeinsam zu schnellstmöglichen Friedensbemühungen aufgerufen. Mit Bedauern sähen sie, dass bisherige Anstrengungen in der Ukraine, in Nahost und anderen Regionen keine Erfolge gebracht hätten, erklärten die Geistlichen am Dienstag im Vatikan.
Unter eins
Österreichs Bundeskanzler Christian Stocker vergleicht die zunächst gescheiterte Kanzlerwahl von Friedrich Merz mit der Papstwahl im Vatikan
Zu guter Letzt
Vieles war außergewöhnlich am gestrigen Tag im Parlament. Besonders ins Auge stachen jedoch die vielen Abgeordneten (Frauen wie Männer) der Fraktion Die Linke, die ganz oder teilweise in Lila gekleidet waren. Ob kompletter Hosenanzug, Rock mit passender Strumpfhose oder wie die Fraktionsvorsitzende Heidi Reichinnek mit lilafarbenem Top unter dem schwarzen Blazer – die feministische Farbe war deutlich vertreten. Warum?
„Das war eine Protestaktion, mit der wir zeigen wollten, dass die Frauenquote im Deutschen Bundestag mit 32 Prozent viel zu niedrig ist“, sagte die frauenpolitische Sprecherin der Fraktion, Gökay Akbulut, auf Nachfrage von SZ Dossier. Es habe bei der vergangenen Bundestagswahl einen „Rollback“ gegeben, es seien wieder weniger Frauen, queere Personen und andere Minderheiten im Bundestag vertreten.
Zudem wollte die Linksfraktion nach Aussage von Akbulut auch darauf aufmerksam machen, dass im Koalitionsvertrag viele Forderungen zu den Belangen von Frauen keinen Niederschlag gefunden hätten oder gestrichen worden seien: „Deshalb ist die Aktion auch ein Zeichen gegen Friedrich Merz und seine Politik“, sagte die Linke.
Dass die ehemalige Bundestagspräsidentin und neue Arbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) und mehrere Sozialdemokratinnen und Grünen-Parlamentarierinnen gestern ebenfalls in Lila erschienen, muss jedoch ein Zufall gewesen sein. „Die Aktion war nicht parteiübergreifend abgesprochen“, sagte Akbulut.